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29. August 2001![]() ![]() ![]() In melancholischen und depressiven Momenten, wenn gerade eine Locke nicht den richtigen Schwung hatte, der Himmel bis zur Erde hing, weil eine Betonwand aus dunkelgrauen Wolken sich manifestiert hatte und es schüttete, was das Zeugs hielt, überkam es mich - das Fernweh - und ich stellte mir jedes Mal die berühmte Frage: "Warum, warum bloss hatten sich meine Eltern vor 36 Jahren ausgerechnet dieses Breitengrad für ihren Exodus ausgewählt?" Anstelle meines treuesten Weggefährten "bloody umbrella" hätte ich mir lieber einen vor Komplimenten strotzenden Italo, feurigen Spanier oder tänzelnden Latino unter den Arm geklemmt. Irgendwo, weit weg wo Palmen wuchsen, die Menschen dem Schicksal mit einem breiten Lächeln trotzten, Sandaletten das ganze Jahr über zur Grundausstattung gehörten, der Rhythmus der Musik die Herzen der Bevölkerung berührte und die Sonne wie eine Duracel-Batterie unermüdlich vom Himmel flackerte. "Paps, wieso wohnen wir ausgerechnet hier? 80% des Jahres sind saukalt, nass und grau, die restlichen 20% sind wiederum so heiss und schwül, dass meine Hirnzellen den Draht zur Aussenwelt gekappt haben und alle Jahre wieder lese ich über den bevorstehenden Jahrhundertsommer, der eh' nicht kommt. Warum nicht Brasilien? Amerika? Rarotonga? Italien? Spanien?" Jammerte ich im Schoss der Familie. "Amerikaner sind verrückt und von den Hurrikans ganz zu schweigen, Spanien stand damals unter Francos diktatorischem Regime, in Italien hätte ich keinen Job gehabt, Brasiliens Sambatänzerinnen hätte Deine Mutter nicht überlebt, Rarotonga liegt am Auspuff der Welt und hier in der Schweiz lebte schon Dein Onkel." Klar, der Onkel. Der Onkel, den ich seit Kindesbeinen an nicht leiden konnte. Keiner hatte mich gefragt, wo ich gezeugt werden und mein Leben verbringen wollte. Hier war ich und hier blieb ich. Nur war mein Grund 10 Jahre alt, gewöhnt, ihren geschiedenen Paps zu sehen wann es ihr beliebte und hatte mir unmissverständlich klar gemacht, nie im Leben irgendwo weiter weg als 10 Kilometer von ihrer Familie leben zu wollen. "Was meinst Du, Zuckepuppe, wie es wäre, wenn wir irgendwo anders leben würden?" startete ich einen zaghaften Versuch. "He? Bei den chinesischen?" Sämtliche Alarmglocken hatten die Gedanken an Britney Spears und Buffy ausgeschaltet und Zuckerpuppes Abwehrhaltung provoziert. "Nein, nicht bei den chinesischen. Wie wäre es mit den amerikanischen? Los Angeles zum Beispiel...oder Miami...irgendwo an der Küste... stell Dir vor wie toll das wäre und ausserdem sind die Hamburger und Barbieläden viel grösser." Erpressung hatte schon immer funktioniert. "Mensch Mamma...ich bin zu gross für Barbies und Hamburger hasse ich seit einem Monat. Opa sagt, die haben Rinderwahnsinn." Zwecklos. Ich hatte mich damals gebeugt, ich hatte mich Jahre später der Liebe wegen von einem Weltbummel verabschiedet und jetzt kuschte ich vor meiner Lieblingstochter. Ade Selbstachtung. Ciao Autorität. Ich war ein Feigling, weil ich mich von einem Kind unterbuttern liess, welches in einigen wenigen Jahren ihren Tramper packen und mit einem Groovie an der Seite irgendwo in der Pampa unter sternklarem Himmel Pogo tanzen würde. Geschah mir recht. "Mami, vergiss nicht, die Küche und das Bad auszuräumen! Am Montag kommen die Baumänner." Oh Shit, am Montag begann der ultimative Wohnungsumbau. Küche und Bad würden saniert werden und wie aus "Schöner Wohnen" aussehen. Tja, in etwa fünf Wochen würden sie so aussehen. Und bis dahin hiess es, unser Inventar in Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer unterzubringen, kein Wasser, keine Kochmöglichkeit und keine Toilette zu haben. Mein Leben bestand aus Baustellen, denn wohin ich auch ging, überall wurde gebohrt, geteert, gepflastert, Kabel gelegt und Bauarbeiter zwitscherten mir die unflätigsten Wünsche und Ausdrücke zu. Angefangen bei mir zu Hause, am Bahnhof und next to office.
War meine Welt bis vor einigen Tagen noch intakt gewesen, drohte sie nun aus den Fugen zu geraten. Chaos City. Es hatte den
Anschein einer Nachkriegszeit, wo wieder aufgebaut werden musste. Nur dass die Beteiligten weder motiviert noch euphorisch
waren. "Mami, ich muss mal." Mit zusammengedrückten Beinen schlotterte Zuckerkeks neben mir auf dem Balkon. "Wir müssen zu Opa in die Wohnung - aber ich gehe zuerst, ich bin ein Kind!" Ja, sie war ein Kind. Ich war die arbeitende Erwachsene, die sich dank ihrem Alter ihre Bedürfnisse verkneifen musste und später den Schlusslichtern eines davonbrausenden Inter-City-Zuges nachwinken konnte. "Na? Wie war das nochmals mit Deiner Frage, warum Deine Mutter und ich uns ausgerechnet dieses Breitengrad ausgesucht haben?" Hämisch grinsend lag Paps auf dem Sofa und studierte über den Brillenrand hinweg mein mürrisches Gesicht. "Wie lebt es sich so ohne die täglichen Bequemlichkeiten? Die ja wie gesagt in fünf Wochen schon vorbei sind. Also nicht eine soooo lange Zeit?" Ja, wie war das, mit meinem Wunsch nach einer Insel, Palmen und Kokosnüssen? Ich sah es vor mir, das Bild von mir und Zuckerkeks. Irgendwo in der Hitze einer Tropennacht, schweissgebadet und mit Antimücken-Creme eingeseift, das Moskitonetz über dem Bett, Skorpionspuren im Sand, ein Zweiplatten-Kocher, tröpfelndes Wasser und fast kein Strom, weit weg vom Schoss der Familie und perfekter Infrastruktur der Eidgenossen. Oder irgendwo an der Porte eines Krankenhauses, dessen Schwestern mich zum Teufel jagten, weil ich die Sozialversicherungsnummer vergessen hatte, oder irgendwo in einem Land, welches sich das Weltembargo schlechthin eingehandelt hatte und ohne Schwärzerei und Hehlerei nix mehr ging, die Lehrer immer öfter streikten, die Kids mit der No-Future-Mentalität aufwuchsen und die Politiker verzweifelt den Westen wieder anbaggerten. Er hatte Recht. Ich hockte im Luxus, wir waren abgesichert und die Zahnräder rasteten ziemlich problemlos eins ins andere ein, Zuckerkeks und ich hatten eine Zukunft und konnten unser Leben selber bestimmen. Die Grundlebensbedingungen waren vorhanden. Die Inseln konnte ich als Touri besuchen und es empfahl sich, über Katastrophen lieber in einer Zeitung zu lesen als diese hautnah zu erleben.
Perfect world. Ist leider auf keiner der Weltkarten zu finden. |
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