In melancholischen und depressiven Momenten, wenn gerade eine Locke nicht den richtigen Schwung hatte, der
Himmel bis zur Erde hing, weil eine Betonwand aus dunkelgrauen Wolken sich manifestiert hatte und es schüttete, was das Zeugs hielt,
überkam es mich - das Fernweh - und ich stellte mir jedes Mal die berühmte Frage: "Warum, warum bloss hatten sich meine Eltern vor
36 Jahren ausgerechnet dieses Breitengrad für ihren Exodus ausgewählt?"
Anstelle meines treuesten Weggefährten "bloody umbrella" hätte ich mir lieber einen vor Komplimenten strotzenden Italo, feurigen
Spanier oder tänzelnden Latino unter den Arm geklemmt. Irgendwo, weit weg wo Palmen wuchsen, die Menschen dem Schicksal mit einem
breiten Lächeln trotzten, Sandaletten das ganze Jahr über zur Grundausstattung gehörten, der Rhythmus der Musik die Herzen der
Bevölkerung berührte und die Sonne wie eine Duracel-Batterie unermüdlich vom Himmel flackerte.
"Paps, wieso wohnen wir ausgerechnet hier? 80% des Jahres sind saukalt, nass und grau, die restlichen 20% sind wiederum so
heiss und schwül, dass meine Hirnzellen den Draht zur Aussenwelt gekappt haben und alle Jahre wieder lese ich über den
bevorstehenden Jahrhundertsommer, der eh' nicht kommt. Warum nicht Brasilien? Amerika? Rarotonga? Italien? Spanien?" Jammerte ich
im Schoss der Familie. "Amerikaner sind verrückt und von den Hurrikans ganz zu schweigen, Spanien stand damals unter Francos
diktatorischem Regime, in Italien hätte ich keinen Job gehabt, Brasiliens Sambatänzerinnen hätte Deine Mutter nicht überlebt,
Rarotonga liegt am Auspuff der Welt und hier in der Schweiz lebte schon Dein Onkel." Klar, der Onkel. Der Onkel, den ich seit
Kindesbeinen an nicht leiden konnte.
Keiner hatte mich gefragt, wo ich gezeugt werden und mein Leben verbringen wollte. Hier war ich und hier blieb ich. Nur war mein
Grund 10 Jahre alt, gewöhnt, ihren geschiedenen Paps zu sehen wann es ihr beliebte und hatte mir unmissverständlich klar gemacht,
nie im Leben irgendwo weiter weg als 10 Kilometer von ihrer Familie leben zu wollen. "Was meinst Du, Zuckepuppe, wie es wäre, wenn
wir irgendwo anders leben würden?" startete ich einen zaghaften Versuch. "He? Bei den chinesischen?" Sämtliche Alarmglocken hatten
die Gedanken an Britney Spears und Buffy ausgeschaltet und Zuckerpuppes Abwehrhaltung provoziert. "Nein, nicht bei den
chinesischen. Wie wäre es mit den amerikanischen? Los Angeles zum Beispiel...oder Miami...irgendwo an der Küste... stell Dir vor
wie toll das wäre und ausserdem sind die Hamburger und Barbieläden viel grösser." Erpressung hatte schon immer funktioniert.
"Mensch Mamma...ich bin zu gross für Barbies und Hamburger hasse ich seit einem Monat. Opa sagt, die haben Rinderwahnsinn."
Zwecklos. Ich hatte mich damals gebeugt, ich hatte mich Jahre später der Liebe wegen von einem Weltbummel verabschiedet und jetzt
kuschte ich vor meiner Lieblingstochter. Ade Selbstachtung. Ciao Autorität. Ich war ein Feigling, weil ich mich von einem Kind
unterbuttern liess, welches in einigen wenigen Jahren ihren Tramper packen und mit einem Groovie an der Seite irgendwo in der
Pampa unter sternklarem Himmel Pogo tanzen würde. Geschah mir recht.
"Mami, vergiss nicht, die Küche und das Bad auszuräumen! Am Montag kommen die Baumänner." Oh Shit, am Montag begann der ultimative
Wohnungsumbau. Küche und Bad würden saniert werden und wie aus "Schöner Wohnen" aussehen. Tja, in etwa fünf Wochen würden sie so
aussehen. Und bis dahin hiess es, unser Inventar in Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer unterzubringen, kein Wasser, keine
Kochmöglichkeit und keine Toilette zu haben. Mein Leben bestand aus Baustellen, denn wohin ich auch ging, überall wurde gebohrt,
geteert, gepflastert, Kabel gelegt und Bauarbeiter zwitscherten mir die unflätigsten Wünsche und Ausdrücke zu. Angefangen bei mir
zu Hause, am Bahnhof und next to office.
War meine Welt bis vor einigen Tagen noch intakt gewesen, drohte sie nun aus den Fugen zu geraten. Chaos City. Es hatte den
Anschein einer Nachkriegszeit, wo wieder aufgebaut werden musste. Nur dass die Beteiligten weder motiviert noch euphorisch
waren.
Wo war der verdammte Kaffefilter? Genervt verfing ich mich in einer der Plastikplanen, die über sämtlichen Türen hingen.
Morgens um fünf und gereizt, suchte ich Kaffefilter, Kaffepulver und Milch im Überbleibsel meines Heimes zusammen. Konnte dieses
Ritual unter normalen Lebensbedingungen innert 2 Minuten und drei Handgriffen erledigt werden, rannte ich mir jetzt die Hacken
ab, weil ich keinen Lageplan meiner Ess- und Daseinswaren angelegt hatte. Überall war irgendwas, doch dort wo ich es brauchte,
hatte ich zum einen nicht genügend Platz und zum anderen hatte ich auch noch keine Wichtigkeitsskala erstellt. Konnte ich mich
ansonsten in der Küche schminken weil sie bis anhin die besten Lichtverhältnisse hatte, hockte ich nun auf dem Sofa und blinzelte
verzweifelt in den Spiegel. Es war zu dunkel, ich sass zu tief und mein Glitzerpuder bekleckerte das Ledersofa. Ich musste
dringend aufs Klo, meine Haare benötigten einen Föhn doch den einzuschalten bedurfte das Ausschalten der Kaffemaschine. Um mich
richtig stylen zu können, musste ich auf den Knien vor dem Garderobenspiegel herumrutschen, der sein Plätzchen auf dem Sideboard
gefunden hatte. Fünf Minuten herumrutschen hiess 15 Minuten Ameisenkribbeln in den Beinen. Zum stylen benötigte ich mindesten
10 Minuten. Wo war mein BH? Wo war mein weisses T-Shirt? Irgendwo zwischen Zuckerdose, Zahnbürste, Papptellern und einem
übriggebliebenen Sandwich. Meine Finger klebten wie mit Sekundenkleber vollgekleistert aneinander. Es lebe der Drei-Wetter-Taft,
Düsseldorf-New-York-Rom, Hurrikan, Hagelsturm und Windboen von 250 km/h.....die Dreh-und Schwungkraft der Schillerlocken war
unverändert geblieben. Für einmal hatte die Werbung nicht gelogen. Wo war die Wasserflasche? Frierend stand ich auf dem Balkon
über dem Abflussgitter und schüttete mir Evian über die Hände. Veronica Ferres spazierte freiwillig und entrückt in ihr Eon.
Ich duschte in Evian. Wo lebte ich? Fehlten nur noch der Ziehbrunnen und Wassertrog.
"Mami, ich muss mal." Mit zusammengedrückten Beinen schlotterte Zuckerkeks neben mir auf dem Balkon. "Wir müssen zu Opa in die
Wohnung - aber ich gehe zuerst, ich bin ein Kind!" Ja, sie war ein Kind. Ich war die arbeitende Erwachsene, die sich dank ihrem
Alter ihre Bedürfnisse verkneifen musste und später den Schlusslichtern eines davonbrausenden Inter-City-Zuges nachwinken konnte.
"Na? Wie war das nochmals mit Deiner Frage, warum Deine Mutter und ich uns ausgerechnet dieses Breitengrad ausgesucht haben?"
Hämisch grinsend lag Paps auf dem Sofa und studierte über den Brillenrand hinweg mein mürrisches Gesicht. "Wie lebt es sich so
ohne die täglichen Bequemlichkeiten? Die ja wie gesagt in fünf Wochen schon vorbei sind. Also nicht eine soooo lange Zeit?"
Ja, wie war das, mit meinem Wunsch nach einer Insel, Palmen und Kokosnüssen? Ich sah es vor mir, das Bild von mir und Zuckerkeks.
Irgendwo in der Hitze einer Tropennacht, schweissgebadet und mit Antimücken-Creme eingeseift, das Moskitonetz über dem Bett,
Skorpionspuren im Sand, ein Zweiplatten-Kocher, tröpfelndes Wasser und fast kein Strom, weit weg vom Schoss der Familie und
perfekter Infrastruktur der Eidgenossen. Oder irgendwo an der Porte eines Krankenhauses, dessen Schwestern mich zum Teufel jagten,
weil ich die Sozialversicherungsnummer vergessen hatte, oder irgendwo in einem Land, welches sich das Weltembargo schlechthin
eingehandelt hatte und ohne Schwärzerei und Hehlerei nix mehr ging, die Lehrer immer öfter streikten, die Kids mit der
No-Future-Mentalität aufwuchsen und die Politiker verzweifelt den Westen wieder anbaggerten.
Er hatte Recht. Ich hockte im Luxus, wir waren abgesichert und die Zahnräder rasteten ziemlich problemlos eins ins andere ein,
Zuckerkeks und ich hatten eine Zukunft und konnten unser Leben selber bestimmen. Die Grundlebensbedingungen waren vorhanden.
Die Inseln konnte ich als Touri besuchen und es empfahl sich, über Katastrophen lieber in einer Zeitung zu lesen als diese
hautnah zu erleben.
Perfect world. Ist leider auf keiner der Weltkarten zu finden.

Helena Ugrenovic
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